Wolfgang Kubicki, Meinungsunfreiheit - Das gefährliche Spiel mit der Demokratie

Da ich Wolfgang Kubicki, den ich als "Enfant terrible" der FDP in den 1990er und 2000er Jahre mal sehr geschätzt habe, nach dem Zeitraum zwischen dem 7. Dezember 2013 und dem 6. Januar 2015 eher für einen Freiheitlichen als für einen Liberalen halte, der der AfD á la Lucke, Petry und Adam inzwischen ideologisch näher steht als der FDP, deren Mitglied er im März 1971 geworden ist, war ich zwar sehr gespannt auf den Inhalt seines Buches von August 2020, aber auch sehr skeptisch.

 

Liegt es am zunehmenden Lebensalter? Kubicki ist 15 Jahre älter als ich, und ich stehe nach wie vor zum Programm zur Bundestagswahl am 5. Oktober 1980 "Unser Land soll auch morgen liberal sein", das mich im Jahr 1984 zur FDP geführt hat.

 

Was würde mich erwarten? Schlägt er in die gleiche Kerbe wie die Vertreter und Anhänger der AfD, die nicht müde werden, ständig zu behaupten, man dürfe seine Meinung nicht mehr frei sagen, obgleich sie dies selbst andauernd machen?

 

Ich war während und nach der Lektüre doch sehr positiv überrascht. Da steckt doch noch einiges an liberalem Gedankengut drin. Es ist Liberalen, aber natürlich auch anderen Menschen zu empfehlen.

 

Nicht zustimmen kann ich Kubicki allerdings, wenn er auf den Seiten 48 ff. versucht, den Satz "Dann hören die [in Afrika, Anm. d. Verf.] auf, die Bäume zu fällen, hören auf, wenn´s dunkel ist, wenn wir sie nämlich elektrifizieren, Kinder zu produzieren." von Clemens Tönnies zu verteidigen. Dabei ist für mich gar nicht entscheidend, ob die Aussage rassistisch ist, sie ist schlicht und ergreifend menschenverachtend.

 

Auch sein Versuch auf den Seiten 73 ff. seinen "sehr geschätzten Fraktionskollegen" Gero Hocker wegen einer Äußerung an die Adresse von Julia Klöckner zu verteidigen, geht nach meiner Überzeugung fehl.

 

In diesem Zusammenhang ist es eben kein Kompliment, und es würde mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit über einen männlichen Politiker nicht geäußert werden.

 

Warum steht Hocker nicht zu seinen Ansichten?

Gut wäre auch, wenn sich Kubicki - vor allem in seiner Eigenschaft als einer der Vizepräsidenten des Deutschen Bundestages - an seine eigenen Erkenntnisse und Einsichten halten würde.

 

Unter der Überschrift "Die gefährliche Übergriffigkeit der politischen Mitte" schreibt er auf Seite 72: "Wir müssen sehr aufpassen, dass sich unsere Sprache nicht der Sprache der Gegner der Demokratie anpasst."

 

Wie paßt dazu, daß er den Präsidenten der Republik Türkei, Recep Tayyip Erdoğan, bei einer Wahlkampfveranstaltung für die FDP Niedersachsen in Hildesheim am 25. September 2022 als "kleine Kanalratte" bezeichnet hat?

 

Auch seine Rechtfertigung auf den Seiten 128 ff. für den Satz "Die Wurzeln für die Ausschreitungen liegen im 'Wir-schaffen-das' von Kanzlerin Angela Merkel." im Zusammenhang mit den gewalttätigen Ausschreitungen in Chemnitz insbesondere am 26. und 27. August sowie am 1. September 2018 überzeugt mich nicht. Denn anscheinend hat er ihn so gesagt und auch freigegeben.

 

Könnte er wirklich einen anderen Eindruck erwecken, wenn mehr Text davor oder danach stände?

 

Auch seine Ausführungen rund um die COVID-19-Pandemie sehe ich skeptisch und bestätigen leider eher meine Sicht auf den Kubicki der 2010er und 2020er Jahre.

 

So schreibt er: "Während der freiheitliche [liberale, Anm. d. Verf.] Mensch gerne Verantwortung für sich und seine Mitmenschen übernimmt …"

 

Leider passen dazu so manche seiner Aussagen so gar nicht:

 

Wenn er zum Beispiel mit Blick auf die Grundrechtseingriffe auf Seite 52 sagt "Wer Angst hat, soll zu Hause bleiben." dann verkennt Kubicki, daß man sich eben nicht selbst vor einer Infektion mit COVID-19 schützen kann. Das gilt vor allem für bestimmte Gruppen von Menschen, für die aber selbstverständlich die gleichen Grundrechte gelten wie für alle anderen Menschen auch. Es geht also nicht ohne die Rücksichtnahme der Mitmenschen, ohne deren Mitverantwortung.

 

Und wenn er dem Journalisten Werner Kolhoff auf der Seite 121 vorwirft, er "agitiere eigentlich und agiere faktisch undemokratisch", weil er in einem Kommentar in der Bremerhavener Nordsee-Zeitung am 14. Mai 2020 geschrieben hat: "Christian Lindner profiliert sich derzeit als besonders kritischer Begleiter der Corona-Maßnahmen und zugleich als oberster Lockerungspolitiker. Er steuert sein Parteischiff damit geradewegs auf jenes Ufer zu, an dem die AfD schon liegt.", dann irrt Kubicki.

 

Kolhoff suggeriert eben nicht, wie Kubicki behauptet, daß wer sich für unsere verfassungsrechtlichen Grundlagen einsetzt, wer die Regierungspolitik in schweren Zeiten kritisiert, mit Rechtsradikalen gleichzusetzen und folglich auszugrenzen sei.

 

Daß Beschränkungen der Grundrechte immer wieder so schnell wie möglich aufgehoben werden müssen, ist eine Selbstverständlichkeit.

 

Einer aus CDU/CSU und SPD gebildeten Bundesregierung und letztendlich auch den Landesregierungen, an denen CDU/CSU, die Partei "Bündnis 90/Die Grünen", die FDP selbst und die SPD beteiligt waren, allerdings zu unterstellen, sie würden dies nicht machen, ist auch nicht weniger kritikwürdig als der FDP zu unterstellen, sie würde sich in Richtung AfD entwickeln, ohne sie deshalb gleich als rechtsradikal oder gar als rechtsextremistisch zu bezeichnen.

 

Unser Grundgesetz selbst verlangt während einer Pandemie nach Eingriffen in einzelne Grundrechte. Denn die Grundrechte auf körperliche Unversehrtheit (Gesundheit) und Leben galten und gelten für alle Menschen, auch und gerade für diejenigen, die zu den sogenannten vulnerablen Gruppen gehören.

 

Daß Grundrechte immer wieder gegeneinander abgewogen werden müssen, ist übrigens nicht neu, sondern eher politischer und juristischer Alltag. Das weiß Kubicki nicht nur als Rechtsanwalt sehr genau.

 

Sehr traurig und ein Armutszeugnis für die ehemalige liberale Rechtsstaatspartei FDP ist - gerade vor diesem Hintergrund -, daß für sie das Grundrecht auf Asyl anscheinend nicht verteidigt werden muß.

 

Die Änderung des Grundgesetzes im Jahr 1992 ("Asylkompromiß") - mit Zustimmung der FDP - hat das Grundrecht auf Asyl mit Blick auf das Dubliner Übereinkommen bereits fast beseitigt. Nun soll mit dem "EU-Asylkompromiß" anscheinend das beendet werden, das man seinerzeit begonnen hat.

 

Selbstverständlich ist auch, daß die Regierungen und ihre Maßnahmen kritisiert werden dürfen.

 

Die FDP hat aber immer wieder Maßnahmen in einer Art und Weise kritisiert, die sehr an die Kritik der AfD erinnert hat, obgleich sie zudem in der Bund-Länder-Konferenz abgestimmt wurden, an der die FDP selbst über die Regierungen der Länder Nordrhein-Westfalen (seit 30.6.2017), Rheinland-Pfalz (seit 18.5.2016), Sachsen-Anhalt (seit 16.9.2021) und Schleswig-Holstein (seit 28.6.2017) beteiligt gewesen ist. Maßnahmen, die sie in diesen Ländern - teilweise sogar in verschärften Formen - mitgetragen hat.

 

Das "beste" Beispiel sind die nächtlichen Ausgangssperren im Bund ("Bundesnotbremse") einerseits und Nordrhein-Westfalen andererseits – mit maßgeblicher Beteiligung und Mitwirkung der FDP unter Joachim Stamp.

 

Insofern halte ich Kritik, wie sie von Werner Kolhoff geübt worden ist, durchaus für berechtigt und nachvollziehbar und teile ich sie auch.

 

Auswüchse anzuprangern und gegen Mißstände vorzugehen, politisch und auch juristisch, war richtig und wichtig.

 

Der FDP ging es aber nach meinem Eindruck nicht um sachliche Kritik an einzelnen Maßnahmen, sondern um Wahlkampf, um Profilierung. Sie wollte die Menschen "einfangen", denen die AfD zu radikal, zu extremistisch war und ist.

 

Sehr bezeichnend ist, daß ihr das jetzt in einer sozialliberalen Koalition genau dies auf die Füße fällt.

 

Als sehr aufschlußreich habe ich den folgenden Satz auf Seite 134 von ihm empfunden: "Wer Stegner und mich im Land hat, brauche keine Populisten."

 

Hat er sich damit selbst als Populist bezeichnet? Ich denke, daß er das getan hat. Leider. Bedauerlich, aber zumindest ehrlich.

 

Wie hat es der Liberale Walter Scheel formuliert, der übrigens Bundesvorsitzender der FDP war, als Kubicki seinen Weg zur FDP gefunden hat:

 

"Es kann nicht die Aufgabe eines Politikers sein, die öffentliche Meinung abzuklopfen und dann das Populäre zu tun. Aufgabe des Politikers ist es, das Richtige zu tun und es populär zu machen."

Anläßlich der Ernennung zum Vizekanzler am 22. Oktober 1969.

Exkurs: Wolfgang Kubicki, Die erdrückte Freiheit - Wie ein Virus unseren Rechtsstaat aushebelt

Ist es ein Plädoyer gegen Moralismus, Angstmache und Ausgrenzung oder doch eher ein "Schrei nach Liebe", nachdem sich die FDP á la Lindner und Kubicki im November 2017 nicht zu einer Jamaikakoalition, zu einer Beteiligung an der Bundesregierung durchringen konnte?

 

Da sich Wolfgang Kubicki wohl nach wie vor für einen Sozialliberalen hält - eine Mischung aus einem Sozialdemokraten und einem Liberalen -, würde ich mich darüber freuen und von ihm erwarten, daß er sich so vehement für das individuelle Grundrecht auf Asyl und die Menschenrechte von Flüchtlingen einsetzt, die vor Krieg und Gewalt und/oder vor politischer Verfolgung ihre Heimat, ihren Kulturkreis, ihre Familie und ihre Freunde verlassen mußten, um ihr Leben zu retten, wie gegen jegliche Eingriffe in die Grundrechte während der COVID-19-Pandemie.

 

Er blendet ganz konsequent aus, daß seine Partei auf Länderebene alle Maßnahmen abgenickt hat, teilweise härtere Maßnahmen, als von der Bund-Länder-Konferenz vorgeschlagen, und zumindest indirekt immer Teil der Bund-Länder-Konferenz war.

 

Auch seine Behauptung, die Exekutive hätte die Legislative, die Parlamente entmachtet, ausgeschlossen, zeugt von ideologischen Scheuklappen.

 

Sowohl der Deutsche Bundestag als auch die Landesparlamenten hätten jederzeit die Entscheidungen an sich ziehen können.

 

Die jeweiligen Mehrheiten haben es aber nicht getan, weil sie anscheinend den von ihnen gebildeten Regierungen vertraut haben.

 

Man könnte fast auf den Gedanken kommen, daß die Kritik nur daherrührt, daß die FDP auf Bundesebene nicht an der Regierung beteiligt war und keinen Ministerpräsidenten gestellt hat.

 

Wäre es nach Kubicki gegangen, wäre Thomas L. Kemmerich noch Ministerpräsident von Thüringen und von Höckes Gnaden gewesen. Kemmerich, der längst in die Partei "Bündnis Deutschland", die neue Partei "Werteunion" von Hans-Georg Maaßen oder gar in die AfD, aber keineswegs in die FDP gehört. Freiheitliche Deutsche Partei?

 

Kaum hatte sich das geändert und war die FDP an der Bildung der Bundesregierung beteiligt, fand eine Abstimmung mit den Bundesländern so gut wie gar nicht mehr statt und gab es auch wieder mehr Todesfälle.

 

Die von Kubicki oft und gern kritisierte Bund-Länder-Konferenz, letztendlich nichts anderes als die Ministerpräsidentenkonferenz mit der Bundeskanzlerin als Gast, war durchaus sinnvoll und zielführend. Und es war auch gut, daß die Bundeskanzlerin die Moderation und Koordination übernommen hat, auch wenn dies nicht auf seine Zustimmung gestoßen ist.

 

Entgegen der Wahrnehmung durch Kubicki hat nach meinem Empfinden niemand der Opposition oder sonst irgendjemanden das Wort, seine gegenteiligen Ansichten oder Kritik verboten.

 

Appelle an den Zusammenhalt und die Solidarität halte ich in Krisenzeiten, in denen es um Leben und Tod geht, durchaus für legitim und sogar notwendig, auch wenn der Tod zum Leben dazugehört, wie Kubicki völlig richtig feststellt.

 

Er nimmt für die Opposition in Anspruch, Alternativen entwickeln und vorschlagen zu dürfen. Leider kann ich mich an solche Alternativen von Seiten der FDP nicht erinnern.

 

Erinnern kann ich mich an pauschale Ablehnung und Kritik aus Prinzip - und dem Mittragen der Maßnahmen in Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Schleswig-Holstein und später auch in Sachsen-Anhalt.

 

Ein Höhepunkt war, daß man gegen die sogenannte Bundesnotbremse unter anderem wegen der Ausgangssperren Klage beim Bundesverfassungsgericht erhoben hat, obgleich die FDP Nordrhein-Westfalen als Teil der nordrhein-westfälischen Landesregierung eine noch drastischeren Ausgangsregelung beschlossen hat.

 

Hat es sich widersprechende und wenig plausible Regelungen gegeben, gab es Auswüchse und wurde übers Ziel hinausgeschossen? Ja. Manchmal lag es daran, daß man keine Erfahrungen hatte, vielleicht auch mit der Situation überfordert war.

 

Ist die FDP gegen solche Maßnahmen gezielt  vorgegangen, politisch, juristisch? Nein. Es wurde viel gemeckert und genörgelt, aber sehr wenig gemacht.

 

Beipflichten kann ich Kubicki zu 100 Prozent, wenn er den Umgang mit den Einrichtungen für Senioren und Pflegebedürftige kritisiert. Was hat aber die FDP unternommen, außer es in der Sendung "Anne Will" anzusprechen? Wurden entsprechende Anträge im Bundestag und in den Landesparlamenten gestellt, wurden Klagen vor Gericht erhoben? Davon schreibt Kubicki nichts. Fehlanzeige?

 

Zustimmen kann ich ihm auch weitestgehend beim Thema "Kindertagesstätten und Schulen". Stellte die FDP nicht in dieser Zeit die dafür zuständigen Minister in Nordrhein-Westfalen, immerhin das bevölkerungsreichste Bundesland? Haben diese gezeigt, wie man es besser macht? Nein. Hat Kubicki nicht mit Yvonne Gebauer und Joachim Stamp geredet?

 

Und nach dem Regierungswechsel auf Bundesebene war es maßgeblich die FDP die im Herbst 2021 wirkungsvolle Maßnahmen verhindert und hinausgezögert hat, so daß wieder mehr Menschen erkrankt und leider auch gestorben sind, als es sehr wahrscheinlich nötig gewesen wäre.

 

Der Tod gehört zwar zum Leben dazu, aber es sollte schon das Ziel sein, den Menschen den Tod so lange wie möglich zu ersparen. Sehen das Kubicki und die FDP wirklich (inzwischen) anders?

 

Kubicki sieht nach meinem Eindruck alles durch seine magentafarbene Brille so, wie er es sehen möchte. Das ist leider weder professionell noch liberal.

 

Übrigens hat der Liberale Heiner Garg für mich in Schleswig-Holstein als Minister für Soziales, Gesundheit, Jugend, Familie und Senioren von 2017 bis 2022 einen guten Job gemacht - und als Landesvorsitzender der FDP Schleswig-Holstein von 2011 bis 2022.

 

Die FDP ist nun seit dem 8. Dezember 2021 an der Bundesregierung beteiligt. Wo ist die von Kubicki geforderte "Post-Corona-Strategie"? Man liest ohnehin nicht viel von den Gesundheitspolitikern der FDP.

 

Wenn Kubicki Boris Johnson, Benjamin Netanjahu und Donald Trump lobt und quasi als Vorbilder sieht, dann spricht das für sich selbst und nicht für Kubicki und seine derzeitige Weltanschauung: "Freiheit im Herzen tragen."

 

Gut, daß Kubicki während der Corona-Pandemie nicht in der Pflicht war... Wenn ich einen Wunsch frei hätte, dann würde ich mir den Wolfgang Kubicki wieder wünschen, der mir in den 1990er und 2000er Jahre als "Enfant terrible" der FDP sehr sympathisch gewesen ist.

Gesundheitspolitische Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion
Jürgen Möllemann 22.1.1993 (?) - 25.10.1998
Dr. Dieter Thomae 26.10.1998 - 17.10.2005
Daniel Bahr 18.10.2005 - 26.10.2009
Ulrike Flach 27.10.2009 - 11.5.2011
Heinz Lanfermann 12.5.2011 - 21.10.2013

...
Christine Aschenberg-Dugnus 2018 - 30.4.2022
Prof. Dr. Andrew Ullmann 1.5.2022 -

Bundesfachausschuß Gesundheit
Dr. Elisabeth Pott 2011 bis 2017
Christine Aschenberg-Dugnus Mai 2018 -

Gesundheitsausschuß Bundestag
Dr. Dieter Thomae Vorsitzender 1991 - 1998
Andrew Ullmann Obmann 24.10.2017 - April 2022